Blaues Blut, Promis und Profis
Die Olympischen Segel-Wettkämpfe 1972 vor Kiel waren ein Jahrhundertereignis für Schleswig-Holsteins Landeshauptstadt. Für die 318 Segler aus 42 Nationen, darunter viel Prominenz und sogar Blaues Blut, wurde in Schilksee ein Olympiazentrum gebaut, das auch nach 50 Jahren immer noch fleißig genutzt wird. Auch wenn nicht jeder dem Charme der 70er Jahre erliegt, den die Anlage ausstrahlt, einen großen Pluspunkt hat sie allemal zu bieten: Kaum ein Olympiazentrum ist nachhaltiger. Bis heute findet in Schilksee jährlich die Kieler Woche mit bis zu 4000 Aktiven statt. „Wir haben den Olympischen Spielen viel zu verdanken. Jetzt möchten wir uns mit dem Revival-Event zum 50. Jubiläum bedanken“, so Kiels Organisationsleiter Dirk Ramhorst (Kieler Yacht-Club). „Wir freuen uns nach der Kieler Woche auf einen zweiten Segelhöhepunkt in diesem Jahr“, so der Dänischenhagener, der sich gleichzeitig für die Unterstützung durch den Deutschen Segler-Verband, das Land Schleswig-Holstein und die Stadt Kiel bedankt. So werden 50 Jahre nach den olympischen Segelwettkämpfen vor Kiel Erinnerungen wach, wenn die Stadt vom 10. bis 21. August Zukunft mit Historie verbindet.
Den Segel-Auftakt bilden die Gemeinsamen Internationalen Deutschen Jugendmeisterschaften (GIDJM/Meldeschluss: 29. Juli) vom 10. bis 16. August, bevor vom 17. bis 21. August die olympischen Klassen von 1972 (Meldeschluss: 4. August) zeitlich gestaffelt zum Revival an den Start gehen. Mit zahlreichen weiteren Veranstaltungen an Land und auf dem Wasser feiert Kiel das Jubiläum vom 6. August bis 8. September.
Zwar hatte Kiel von 1960 bis 1965 bereits 3,8 Millionen D-Mark in Bauarbeiten investiert, alte Brücken, Stege und Molen durch neue ersetzt und den Hafen in Schilksee in Olympiahafen umbenannt, doch den Zuschlag aus München als Segelaustragungsort erhielt Kiel erst am 18. März 1967. Eine zweite große Bauwelle setzte ein. Der neue Olympiahafen war am Ende doppelt so groß wie der alte Hafen. Insgesamt umfasste das Segelzentrum rund 285.000 Quadratmeter.
Ein Argument für Kiel-Schilksee und gegen Lübeck-Travemünde war der geplante und nötige Einsatz der Marine, was in Travemünde, an der Grenze zur DDR, problematischer erschien. 1500 Marinesoldaten, 80 Marine-Wasserfahrzeuge, zehn Hubschrauber, vier Mehrzwecklandungsfahrzeuge zur Bergung gekenterter Boote, vier bis sechs Schlauchboote pro Bahn und vieles mehr stellte die Marine zur Verfügung. Insgesamt 150 Millionen DM sollen Bund, Land und Stadt für Schilksee und deren Verkehrsanbindung investiert haben.
Geprägt waren die Regatten 1972 von prominenten Aktiven und dem Thema Profisport. Bis 1971 schloss die bei den Olympischen Spielen geltende Amateurregel Berufssportler oder Sportler, die sich bezahlen ließen, von den Wettkämpfen aus. Ziel war es, den Amateuren im Geiste der Fairness eine Bühne zu geben, da sich nur einige wenige den Luxus des Profitums leisten konnten.
1971 wurde die Amateurregel zunächst durch die Zulassungsregel 26 entschärft. Doch durfte in Schilksee nur starten, wer „seinen Sport immer nur als Nebenbeschäftigung ohne Entgelt ausgeübt“ hat. Ende der 70er Jahre wurde die Regel weiter gelockert, 1981 so gestaltet, dass auch Profis bei Olympia starten konnten, was sie erstmals in Seoul 1988 auch taten, und schließlich wurde die Amateurregel 1990 ganz abgeschafft.
Doch schon lange zuvor wurden immer neue Wege gesucht und gefunden, den Amateurstatus trotz Profitums aufrecht zu erhalten. So waren in den kommunistisch regierten Ländern zahlreiche Sportler Staatsangestellte, sogenannte Staatsamateure. Und im Westen waren viele Aktive beim Militär und konnten sich als Sportsoldaten ganz und gar auf ihren Sport konzentrieren.
1972 war dieses Thema noch sehr brisant. Der damalige IOC-Präsident Avery Brundage schloss den österreichischen Skiläufer Karl Schranz kurz vor den Winterspielen 1972 in Sapporo wegen eines Verstoßes gegen den Amateurstatus aus. Bei den Seglern wurde der Amateurstatus lockerer gefasst. Der „Spiegel“ nahm sich im September 1972 dieses Themas an und schrieb: „Die Wettbewerbe in Kiel machten deutlich, dass olympische Amateur-Ideale ignoriert werden.“
Segler wie Paul Elvström (Dänemark), Hubert Raudaschl (Österreich), Norbert Wagner (Deutschland/Northsails), Pelle Petterson (Schweden), Harry Melges (USA) und Poul Hoj Jensen (Dänemark) sind nur einige Aktive, die in der Segelbranche ihr Geld verdienten. Die Elvström-Krone zierte zahlreiche Segel, so auch auf dem Soling von Prinz Harald von Norwegen und dem Drachen von Spaniens König Juan Carlos (beide Teilnehmer in Kiel). Paul Elvström selbst warb mit Anzeigen für seine Produkte. Nach der Vorgabe der Amateurregelung durfte kein Segler in Kiel „seinen Namen, seine Photos oder seine sportliche Leistung weder direkt noch indirekt zu Werbezwecken zur Verfügung“ stellen. Kein Aktiver war so dicht an einem Ausschluss wie Elvström.
Und auch Ulli Libor war in der Wassersport-Branche tätig. „Segeln war mein Hobby. Ich habe kein Geld fürs Segeln bekommen“, so der FD-Bronze-Medaillengewinner. Aber sie alle haben ihren Unterhalt im Segelsport verdient.
Neben den mehr oder weniger verkappten Profis war aber noch mehr Prominenz am Start, darunter Blaues Blut und hochkarätige Funktionäre. Der damalige König Juan Carlos I von Spanien startete im Drachen und der damalige Prinz Harald von Norwegen und heutige König im Soling. Der spätere Präsident des Internationalen Olympischen Komitees Jacques Rogge (Belgien) ging im Finn an den Start und der ehemalige Präsident des Weltseglerverbandes Carlo Croce (Italien) im FD.
Übrigens: Bei der Nennung besagter Segler ist gendern nicht notwendig, denn vor Kiel traten noch keine Frauen an – auch wenn Segeln von Beginn an für Frauen offen war und 17 Prozent der Aktiven bei den Olympischen Spielen 1972 Frauen waren.
Seit 1900 durften Frauen in einzelnen Disziplinen an den Olympischen Spielen teilnehmen. Die erste deutsche Olympiateilnehmerin und -siegerin war Anna Hübler 1908 im Eiskunst-Paarlauf. 1991 gab es die ersten olympischen Frauenspiele. Die erste olympische Frauen-Segelklasse war der 470er, der 1976 für die Männer und 1988 für Frauen olympisch wurde. Heute ist die Klasse als Mixed-Jolle im olympischen Programm. Insgesamt sind bei den Spielen vor Paris 2024 zwei Mixed-Klassen (Nacra 17 und 470er) sowie je vier Disziplinen für Frauen (49er FX, ILCA 6, Kiten, iQFoil) und vier für Männer (49er, ILAC 7, Kiten, iQFoil) ausgeschrieben.
Rahmenprogramm:
Der DSV bieten den Jugendlichen, die an der GIDJM teilnehmen, die Chance, neue Jugend-Bootsklassen kennenzulernen. Schnupperkurse gibt es am Mittwoch, den 10. August, von 11 bis 19 Uhr, und Donnerstag, den 11. August, von 11. bis 16 Uhr in den Klassen 29er, 420er, ILCA 4 bzw. ILCA 6 und iQ Foil.
Erstmalig ist die historische Sportstätte in Schilksee Teil und Veranstaltungsort des Kieler Kultursommers. Auch eine DSV-Sonderausstellung Olympische Spiele 1972 ist in der Vorbereitung. Das Rahmenprogramm wird am Mittwoch, dem 20. Juli, der Öffentlichkeit vorgestellt.
Die deutschen Nationalteams in Kiel:
Bundesrepublik Deutschland:
Soling: Norbert Wagner/Hans-Joachim Berndt/Friedrich May (11. Platz bei 26 Startern);
Drachen: Franz Heilmeier/Richard Kuchler/Konrad Glas (4. von 23); FD: Ullrich Libor/Peter Naumann (Bronze bei 29 Startern);
Star: Wilhelm Kuhweide/Karsten Meyer (Bronze bei 18 Startern); Tempest: Heinz Laprell/Wolf Stadler (11. bei 21 Startern);
Finn: Walter Mai (12. bei 35 Startern).
Deutsche Demokratische Republik:
Soling: Roland Schwarz/Werner Christoph/Lothar Köpsel (14. von 26);
Drachen: Paul Borowski/Karl-Heinz Thun/Konrad Weichert (Silbermedaille bei 23 Startern);
FD: Herbert Hüttner/Dietmar Gedde (13. bei 29 Startern);
Star: Herbert Weichert/Hans-Joachim Lange (17. bei 18 Startern);
Finn: Hans-Christian Schröder (7. bei 35 Startern).
Prominente Teilnehmer 1972:
Drachen:
Juan Carlos I von Spanien, König, vom 22. November 1975 bis zum 18. Juni 2014. Platzierung: Rang 15.
Poul Hoj Jensen (Dänemark), Bootsbauer und später Segelmacher mit Hans Fogh. Er holte Gold im Soling vor Montreal (1976) und Moskau (1980). Vor Kiel belegte der Däne Rang sieben.
Soling:
Prinz Harald von Norwegen, seit Januar 1991 König von Norwegen. Platzierung: Rang 10.
Paul Elvström. Die dänische Segellegende nahm achtmal an Olympischen Spielen teil und gewann von 1948 bis 1960 viermal nacheinander Gold. Insgesamt 13 WM-Titel in acht verschiedenen Bootsklassen sind bis heute einmalig. An dem Dänen entzündete sich auch in Kiel die Frage: Wer ist Amateur und wer nicht? Segel, Boote, Rettungswesten und vieles mehr trugen schon 1972 die Elvström-Krone.
Harry (Buddy) Melges (USA): Er entwarf die Bootsklasse Melges 24 gemeinsam mit dem Design-Büro Reichel/Pugh. In der Firma wurden auch die anderen Entwürfe von Reichel/Pugh gebaut: Melges 17, Melges 32 und Melges 20. Nach Bronze 1964 vor Tokio im FD folgte vor Kiel Gold im Soling.
Finn-Dinghy:
Jacques Rogge (Belgien). Der spätere Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (2001 bis 2013) belegte Rang 14.
FD:
Carlo Croce (Italien) Präsident des Weltseglerverbandes (2013-2016). Mit Vorschoter Luciano Zinali belegte Croce vor Kiel Rang elf.
Rodney Pattison (GBR) gewann zweimal Gold (Mexiko und Kiel), holte drei WM- und fünf EM-Titel im FD. Vor Kiel gewann Pattison mit Vorschoter Christopher Davies.
Yves und Marc Pajot (Frankreich). Die Brüder gewannen Silber vor Kiel. Marc Pajot wechselte dann in die Hochseeszene und nahm 1973 am Whitbread Round the World Race teil. 1982 gewann er die Route du Rhum. Der Schiffskonstrukteur war Skipper bei vier America’s Cup-Kampagnen. 1987 war er Skipper der Mannschaft Marseilles Syndicate beim Louis Vuitton Cup.
Tempest:
Hubert Raudaschl (Österreich). Der zehnmalige Olympiateilnehmer (einmal als Ersatzmann/1960 bis 1996) belegte vor Kiel Rang zehn vor Laprell/Stadler. Seine größten Erfolge waren die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen 1968 im Finn und 1980 im Starboot sowie die Weltmeistertitel 1964 (Finn) und 1978 (Minitonner).
Star:
Pelle Petterson (Schweden) gewann mit Vorschoter Holger Sundström bei den Olympischen Sommerspielen 1964 in Tokio Bronze, 1972 vor Kiel holte er Silber gemeinsam mit Stellan Westerdahl. Es folgte 1969 der WM-Titel im Star. Petterson war Konstrukteur von Segelbooten bei Maxi Yachts, den italienischen Vega-Booten und des offenen Kielbootes c55. Außerhalb des Segelsports war Petterson im Industrie- und Produktdesign erfolgreich und für Electrolux, Flymo, Rosengren, Volvo-Penta-Bootsmotoren tätig. Zudem entwarf er Möbel, Tür- und Fensterbeschläge sowie WC‘s.
Eckart Wagner (Manager und Präsident von North Sails) war 1972 Ersatzmann im Star. Dreimal hatte Eckart Wagner zuvor an Olympischen Spielen teilgenommen: 1960 (7. im Star in Italien), 1964 (5. im 5.5er vor Tokio) und 1968 (12. im Star vor Mexiko).
Text: Hermann Hell
Der Regatta-Plan:
GIDJM
Klassen: Optimist, Laser Radial, Laser 4.7, Europe, Teeny, 29er, 420er, Pirat, Open Windfoil Youth.
Mittwoch, 10. August, und Donnerstag, 11. August: Vermessung.
Freitag, 12. August, bis Dienstag, 16. August: Wettfahrten
50 Jahre Olympia vor Kiel-Schilksee:
Klassen: Drachen (Ranglisten-Regatta/ 8 Wettfahrten), Flying Dutchman (IDM/ 7 Wettfahrten), Finn Dinghy (EM und U23-EM/ 10 Wettfahrten), Star (North European Championship/ 6 Wettfahrten), Tempest (WM/ 9 Wettfahrten).
Montag, 15. August: Vermessung: Finn und Tempest
Dienstag, 16. August: Vermessung: Finn: Practice Race: Tempest
Mittwoch, 17. August: Vermessung: Finn, Star; Wettfahrten: Tempest
Donnerstag, 18. August: Wettfahrten: Finn, Tempest, Star, Drachen
Freitag, 19. August: Wettfahrten: Finn, Tempest, Star, Drachen, Flying Dutchman
Samstag, 20. August: Wettfahrten: Finn, Tempest, Star, Drachen, Flying Dutchman
Sonntag, 21. August: Wettfahrten: Finn, Tempest, Star, Drachen, Flying Dutchman – danach: Siegerehrungen